Ist es normal, einfach so zu verschwinden, ohne ein Wort, ohne Erklärung? Scheint so im Zeitalter des Internets. Wer so verlassen wird, bleibt nicht nur in völliger Funkstille zurück, sondern auch in größter Verunsicherung.
Ghosting beschreibt das Phänomen, dass sich Menschen, mit denen man sich verabredet, verbindet, befreundet oder gar verliebt oder verpartnert war, von einem Moment auf den anderen in Luft auflösen. Zumindest scheint es so… Nachrichten bleiben unbeantwortet, Telefonanrufe werden ignoriert, irgendwann wird man sogar blockiert. Man hat das Gefühl man war oder hat es mit einem Geist zu tun. Diese Funkstille ist vor allem eine Konfliktvermeidungstaktik, eine Bewältigungsstrategie von Ängsten. Manche schweigen, um Diskussionen aus dem Weg zu gehen, andere, weil sie sich verletzt fühlen, aus Scham oder sich nicht erklären zu wollen oder zu können. Und dann gibt es noch diejenigen, die schweigen, um zu strafen oder um zu manipulieren.
Wenn man jemanden so zurücklässt, der einem zuvor nahestand, greift man seine Grundbedürfnisse an, in etwa das Bedürfnis nach Bindung und Orientierung. Schließlich möchte jeder wissen, woran er ist und möchte somit auch selbst gern den Ausgang der Beziehung zu diesem Menschen mitbestimmen. Da Ghosting die Substanz menschlichen Miteinanders massiv angreift, hat es nicht nur für alle Betroffenen nachhaltige Folgen, sondern auch für die Gesellschaft. Enge Beziehungen und Nähe, die ja verletzbar machen können, werden heutzutage oftmals gefürchtet. Gleichzeitig gilt Ghosting als die absolute Beziehungskatastrophe. Das Schweigen drückt aus „Ich bin nie da gewesen.“ Alles eine Täuschung. Zurück bleiben tief verletzte Menschen, die sich immer seltener in Beziehungen trauen. Ihre Wahrnehmung ist getrübt. Es ergeben sich Fragen wie …. Was habe ich falsch gemacht? War ich nicht liebenswert? Waren Anzeichen da, die ich einfach verdrängt habe, weil ich sie nicht sehen wollte?
Bei Menschen, die Ghosting erleben, egal in welcher Art und Häufigkeit kann dies zu einer posttraumatischen Verbitterungsstörung führen. Das ist eine reaktive psychische Störung in Folge des Erlebens von Ungerechtigkeit, Herabwürdigung oder Vertrauensbruch, gekennzeichnet durch nagende Verbitterungsgefühle, Aggressionsfantasien, schlechte Stimmung, Rückzug aus Sozialbeziehungen, Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit… Das plötzliche Verlassenwerden ist ein Angriff auf die Identität. Ungeklärtes beschäftigt uns weitaus mehr als begründete Entscheidungen.
Schweigen war zwar schon immer eine effektive, wenn auch brutale Form, um zu zeigen, dass in einer Beziehung etwas nicht stimmt, aber in den letzten Jahren hat sich etwas Entscheidendes verändert… dieser Umgang ist erschreckenderweise zur achselzuckend hingenommenen Normalität geworden. Das beste Beispiel ist das heutige Onlinedating… heute gefällst du mir, morgen nicht mehr. Ich benutze dich, genieße dich, dann werfe ich dich weg. Eine Erklärung? Warum? Zu kompliziert, zu aufwendig, warum sollte man sich rechtfertigen, erklären, dem anderen die Chance geben, auch etwas dazu zu sagen? In einer Welt, in der Produkte und Dienstleistungen rund um die Uhr verfügbar sind, überträgt sich diese Wegwerfmentalität offenbar leider auch auf Menschen. Ghosting ist nicht zufällig in Zeiten größter Kommunikationsmöglichkeiten entstanden.
Normen wie Verbindlichkeit, Beständigkeit und zwischenmenschlicher Respekt sind aber nötig, um eine Gesellschaft zusammenzuhalten. Wenn sich Unbeständigkeit als neue Norm des digitalen Miteinanders durchsetzt, dürften die Folgen für das soziale Miteinander massiv sein. Was passiert, wenn wir nicht mehr direkt in Konkurrenz zu anderen treten und uns der Konfrontation nicht mehr aussetzen? Wenn wir verschwinden, sobald es komplizierter wird? Wie konfliktfähig sind wir dann noch? Das zwischenmenschliche Agieren scheint immer schwieriger zu werden. Wir brauchen jedoch die gemeinsame Kommunikation, das Problemlösen, die Diskussionen untereinander, das Beenden von Beziehungen im gegenseitigen Austausch… auch um es anders und vielleicht sogar besser zu machen.
